Kindeswohl für alle Kinder und Jugendlichen sichern!
Unterbringungssituation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird immer prekärer: Fachkräfte und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen dürfen nicht alleine gelassen werden!
Eine angemessene, das Kindeswohl wahrende Aufnahme, Versorgung, Betreuung und Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) ist derzeit an vielen Orten Deutschlands nicht mehr gewährleistet. Viele Kommunen sind mit der Versorgung und Unterbringung der jungen Geflüchteten überfordert. Einige Bundesländer reagierten auf den massiven Einrichtungs- und Personalmangel bereits mit Absenkung der im SGB VIII festgelegten Standards, die ausschließlich für die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen angewandt werden.
Die Fachorganisationen BumF, IGfH, und terre des hommes Deutschland fordern daher:
- Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche müssen in Deutschland im Rahmen der Kinder und Jugendhilfe nach den gesetzlichen Regelungen des SGB VIII untergebracht werden. Bund, Länder und Kommunen sind dazu aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um dies auch unter hohem Druck zu gewährleisten. Dazu wäre ein wichtiger erster Schritt, einen regelmäßigen Stakeholder -Austausch unter Federführung des Familienministeriums zu etablieren.
- Wenn in dieser Situation Nicht-Fachkräfte einbezogen werden, müssen Träger der freien und öffentlichen Jugendhilfe Konzepte und Finanzierungsmöglichkeiten entwickeln, die die Qualität der Arbeit und den Schutz von Minderjährigen gewährleisten und die rechtlichen Grundlagen des SGB VIII berücksichtigen.
- Bei sinkenden Einreisezahlen dürfen Einrichtungen nicht geschlossen werden. Das Kapazitätslimit ist sonst schnell erreicht, wenn die Zahlen ankommender Kinder und Jugendlicher wieder steigen. Es muss eine nachhaltige Infrastruktur vorgehalten werden und Träger müssen betriebswirtschaftliche Planungssicherheit erhalten, wenn sie Angebote öffnen.
- Auch für unterstützende Strukturen (Förderung von Projekten zur Einzelvormundschaft und psychosozialen Versorgung, Sprachmittlung etc.) müssen rasch finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
- Es braucht in den bekannten Ankunfts-Metropolregionen verlässliche Infrastrukturen, die bedarfsgerechte Angebote bereithalten. Das Verteilverfahren nach § 42a ff. SGB VIII verhindert dies und diskriminiert junge Geflüchtete nachhaltig in der Wahrung ihrer Rechte. Es braucht daher eine andere Lösung innerhalb des Rahmens des SGBVIII.
- Um willkürlichen Alterseinschätzungen vorzubeugen, braucht es bessere Beratung und Schulung der Durchführenden. Alterseinschätzung ist sozialpädagogische Fachaufgabe. Wenn eine Person entgegen der eigenen Aussage als volljährig eingeschätzt wird, muss verpflichtend ein Rechtsbeistand beigeordnet werden.
- Der Regelrechtsanspruch auf Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII muss auch in Zeiten der Systemüberlastung umgesetzt werden.
Hintergrund zur aktuellen Situation
Die Situation u.a. in Afghanistan oder Syrien ist für viele Menschen lebensgefährlich. Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene sehen sich gezwungen über immer gefährlichere Routen zu fliehen. Gegenwärtig kommen wieder vermehrt unbegleitete Kinder und Jugendliche in Deutschland an. Insbesondere diese Gruppe zwingen meist kindspezifische Verfolgungsgründe zur Flucht, wie etwa die Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen, Kinderehe oder Menschenhandel. Als Beispiel sei Afghanistan genannt. Im Laufe der Flucht kommt es zudem immer wieder zu Situationen, in denen
Kinder unfreiwillig von ihren Eltern getrennt werden. Kinder und Jugendliche sind dann in einer besonders vulnerablen Situation. Ihr Kindeswohl und ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität sollten daher nach Ankunft in Deutschland zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein.
Doch die Realität sieht für ankommende unbegleitete Kinder und Jugendliche anders aus: die jungen
Menschen treffen auf ein stark geschwächtes Ankunfts- und Betreuungssystem. Die Unterbringungssituation gestaltet sich vielerorts als zunehmend katastrophal. In der Inobhutnahme fehlen durch massiven Platzabbau in den letzten Jahren geeignete Plätze für junge Menschen mit komplexen Bedarfen. Der Abbau wurde von öffentlicher Seite mit den sinkenden Flüchtlingszahlen begründet.
Im Vergleich zur Situation von 2015, als auch vermehrt Geflüchtete einreisten, finden freie Träger aktuell kein Fachpersonal, um angemessen auf die Situation zu reagieren. Die Fachkräfte sind durch die Arbeitsbedingungen während mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie zum Teil stark belastet und können keine zusätzliche Arbeit übernehmen. Zudem ist der Fachkräftemangel in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik branchenübergreifend am größten, was öffentlich kaum bekannt ist. Dies wirkt sich auch auf die Betreuung und Versorgung der jungen Geflüchteten aus.
So berichtet uns eine Fachdienstleitung UMA eines Jugendamts aus Hessen:
“Generell bestehen in fast allen Bereichen des Versorgungs-und Jugendhilfesystems Qualitätsverluste, negative Entwicklung und Trend zur Deprofessionalisierung durch Verlust von Wissen, Erfahrung, Fachlichkeit, Personalfluktuation und -Mangel und dadurch noch mehr Entpolitisierung des Arbeitsfeldes. Gleichwohl ist nicht zu vergessen, dass es in den Einrichtungen weiterhin einige (wenige) enorm engagierte FKs gibt, die eine sehr gute Arbeit machen. Fragt sich
nur, wie lange sie das durchhalten!”
Folgende Umstände sehen wir im Hinblick auf die Nichteinhaltung der Rechte und den Schutz von Minderjährigen besonders kritisch:
Große Strukturen im Rahmen abgesenkter Standards in der Kinder- und Jugendhilfe: Die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen erfolgt derzeit in vielen Bundesländern in großen Unterkünften (Turnhallen, Zelte, Großunterkünfte), die mit Blick auf das Kindeswohl und den Schutz von Kindern nicht haltbar sind. Erfahrene Träger in der Arbeit mit unbegleiteten Kindern und Jugendlichen haben keine Kapazitäten (oder sind nicht bereit, unterhalb der Standards zu arbeiten). Neue Träger, die bisher keinen pädagogischen Zugang zu dieser Zielgruppe hatten und entsprechend keine Expertise im Umgang mit ihnen vorweisen können, werden mit der sensiblen Aufgabe betraut,
ein gelingendes Ankommen zu ermöglichen. Nicht selten führt dies zu Überforderung der Mitarbeiter*innen vor Ort. Den dort untergebrachten Jugendlichen werden existenzielle Kinderrechte vorenthalten.
Zeitweise Unterbringung in Strukturen für erwachsene Geflüchtete: In einigen Bundesländern werden unbegleitete Minderjährige temporär in Sammelunterkünften für Erwachsene untergebracht. Derartige Massenunterbringung bietet meist keine Privatsphäre, verfügt über unzureichende sanitäre Einrichtungen und besitzt häufig kein Hygienekonzept. Kinderschutz- oder Gewaltschutzkonzepte sind, gerade wenn Sammelunterbringung in Notunterkünften erfolgt, nicht oder nur rudimentär vorhanden. Doch selbst unter den besten Bedingungen sind diese Unterkünfte keine Orte für Kinder,
egal ob begleitet oder unbegleitet.
Betreuungsfreie Zeiten: Unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben neben ihren meist von Verlust und Gewalt geprägten Erlebnissen in den Heimatländern oft lange und gefährliche Fluchtwege hinter sich, auf denen sie zum Teil traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. Sie benötigen verlässliche sozialpädagogische Ansprechpersonen, die geschult sind im Hinblick auf Trauma und psychische Notsituationen. Gerade nachts treten bei den Jugendlichen Ängste, Verlusterleben und psychische Störungen auf – eine “Betreuung” durch Security Mitarbeiter*innen (wie in BaWü durch Landeserlass ermöglicht) ist nicht akzeptabel.
Der 16-jährige N ist seit Anfang Oktober in einer Einrichtung in… Er leidet nachts oft an Schlafstörungen, da er sich viele Sorgen um seine im Heimatland verbliebene Familie macht und immer wieder von Erlebnissen im Heimatland und auf der Flucht eingeholt wird. Manchmal sieht er keinen Ausweg und denkt darüber nach, sich das Leben zu nehmen. In der Einrichtung ist nachts nur eine Security vor Ort, er hat mit einem der Mitarbeiter zu sprechen versucht, der hat ihn an den
Betreuer im Tagesdienst verwiesen und den Rettungsdienst benachrichtigt. Dieser ist gekommen, konnte keine akute Suizidalität feststellen und ist wieder weggefahren. Besser ging es N. dadurch nicht. (aus der Beratung des BumF)
Langes Vorclearing: In der derzeitigen Situation zeigt sich (mehr noch als zuvor), dass das Verteilverfahren nach §42a SGB VIII nicht funktioniert. Die eigentliche Intention, geflüchtete Kinder und Jugendliche rasch und kindeswohlorientiert zu verteilen, so dass sie bestmögliche Betreuung erhalten können, hält den derzeitigen Einreisezahlen und dem Umgang damit nicht stand. Momentan sind die Erstgespräche in Berlin und anderen Ballungszentren mit Wartezeiten von mehr als acht Wochen verbunden. In dieser Zeit bleiben Jugendliche in nicht kindgerechten Strukturen in einer Warteposition, sie wissen noch nicht, wo sie nach dem Erstgespräch untergebracht werden. Die Verteilung richtet sich nicht nach tatsächlich vorhandenen Angeboten und freien Plätzen, sondern nach einer Quote auf dem Papier.
Aussetzen des Fachkräfteschlüssels: Das Clearingverfahren muss neben der Erstversorgung der jungen Menschen auch die partizipative Feststellung der Bedarfe gewährleisten. Diese Aufgabe ist eine sozialpädagogische Aufgabe und kann nicht ohne fachliche Begleitung und konzeptionelle Absicherung von “Nicht-Fachkräften” durchgeführt werden. Die Situation geflüchteter junger Menschen ist komplex und ihre Bedarfe (Folgeeinrichtung, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung und Ausbildung etc.) müssen im Rahmen des Clearingverfahrens möglichst umfassend eruiert werden. Gerade die sozialpädagogische und emotionale Begleitung von asyl- und aufenthaltsrechtliche Verfahren einschließlich Folgeverfahren wie die Familienzusammenführung erfordern Qualifizierung, rechtliches Basiswissen und Kenntnis der lokalen Rechtsberatungsstrukturen sowie Zeit und Kapazität, diese Verfahren zu unterstützen. Auch bedarf der Umgang mit jungen Geflüchteten spezieller Kenntnis von Traumapädagogik und interkultureller Sensibilisierung und kontinuierliche Fortbildung. Das nötige Wissen und die nötige Kapazität fehlen jedoch leider oft in der Praxis.
Der 15-Jährige A. ist Ende September in … angekommen. Er ist in einer großen Unterkunft
untergebracht. Dort arbeiten “viele verschiedene Menschen”, aber er habe keinen persönlichen
Ansprechpartner. Auf alle Fragen werde ihm immer wieder gesagt, er solle warten. Manchmal ist
das Essen bereits leer, wenn er zu den Mahlzeiten kommt. Er hat viele Fragen in Bezug auf seinen
weiteren Aufenthalt in Deutschland. Aufgrund seiner Erlebnisse auf der Flucht ist er stark psychisch
belastet, manchmal zieht er sich komplett zurück, zieht sich die Decke über den Kopf, manchmal
bekommt er Panikattacken, Herzrasen und Schwindel. Einmal musste der Notarzt kommen. Er
spricht in der Unterkunft aber mit niemandem darüber, weil er bisher kein Vertrauen fassen konnte.
(aus der Beratung des BumF)
Willkürliche Altersfestsetzung: Die Einschätzung des Alters ist von großer Bedeutung für asyl-, und aufenthaltsrechtliche Fragen und für jugendhilferechtliche Ansprüche. Primär ist laut Gesetz die Einsichtnahme in die Ausweispapiere, hilfsweise ist das Alter durch eine “qualifizierte Inaugenscheinnahme” festzusetzen. In der Praxis wird das Verfahren als willkürlich wahrgenommen. Altersfeststellungen mittels medizinischer Untersuchung werden nicht nur – wie vorgesehen – in Zweifelsfällen angewendet, obgleich diese aus medizinisch-ethischen Gründen bedenklich sind. Die aktuelle Forschung zeigt überdies, dass keine der in der Praxis angewandten medizinischen Methoden geeignet ist, um bei Menschen zwischen 16 und 19 Jahren verlässlich Minder- oder Volljährigkeit nachzuweisen. Besonders bedenklich ist, dass die Meldungen über als volljährig eingeschätzte Minderjährige zunehmen. In vielen Fällen werden Dokumente der jungen Menschen angezweifelt oder nicht in die Altersschätzung einbezogen. Die Einschätzung des Alters ist für die Minderjährigen extrem bedeutsam, gleichzeitig aufgrund der fehlenden Methodengenauigkeit höchst umstritten. Es muss ausgeschlossen werden, dass über die Einschätzungen des Alters eine Steuerung der Fallzahlen vorgenommen wird. Zudem nehmen die Jugendlichen oft ihr Recht nicht wahr, gegen fehlerhafte Alterseinschätzungen auf dem Rechtsweg vorzugehen, weil sie ihre Rechte nicht kennen und keine rechtliche Unterstützung erhalten.
Mangelnde Hilfegewährung für junge Volljährige: Der Übergang aus der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben ist mit zahlreichen Herausforderungen für den jungen Menschen versehen. Das Recht spricht gem. § 41 SGB VIII jungen Erwachsenen weiter Hilfen bis 21 Jahre zu, wenn sich noch nicht selbstständig zurechtkommen; dies gilt auch uneingeschränkt für junge Geflüchtete. Dennoch sind gerade junge Geflüchtete in der Praxisvielfach auf sich alleine gestellt. Teils wird nach Beendigung der Inobhutnahme ihre Verteilung nach dem Asylgesetz nachgeholt, sie sind zudem plötzlich mit der Problematik, Wohnraum zu finden, konfrontiert genauso wie mit der eigenständigen Klärung von Sozialleistungen. Die vorgesehene Übergangsplanung, die schon ein Jahr vor Eintritt der Volljährigkeit beginnen soll, findet in den wenigsten Fällen statt.
Jugendliche A und B befinden sich in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung in Sachsen. Sie leben beide seit ihrem 16. Lebensjahr in dieser Einrichtung und gehen zur Schule. Vor ihrem 18. Geburtstag hat nie jemand mit ihnen darüber gesprochen, wo sie ab ihrem 18. Geburtstag bleiben können. Durch die steigenden Ankunftszahlen sind alle Einrichtungen ausgelastet und es werden dringend Plätze für Minderjährige gesucht. A und B werden an ihrem 18. Geburtstag aus der Einrichtung entlassen und kommen erst einmal bei Freunden auf der Couch unter. Der Wohnungsnot in Sachsen ist groß und langfristig droht ihnen die Obdachlosigkeit. (aus der Beratung des BumF)
Die aktuelle Situation ist ein hausgemachtes und strukturelles Problem der deutschen Jugendhilfepolitik im Umgang mit jungen Geflüchteten, das erneut auf den Schultern der jungen Geflüchteten ausgetragen wird und deren unabdingbare Rechte auf Schutz, Beteiligung und Förderung aus dem 8. Sozialgesetzbuch (SGB VIII) verletzt. Das muss sich dringend ändern!
Den Appell, einschließlich der Unterzeichner*innenliste, finden Sie hier.