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Kinderschutz in der Krise. Verantwortung übernehmen und entschieden handeln.

Der Kinderschutzbund hat auf seiner Bundesmitgliederversammlung 2024 die Position “Kinderschutz in der Krise. Verantwortung übernehmen und entschieden handeln.” beschlossen. Mit dieser fordert er dringend, dass die prekäre Situation im Bereich des Kinderschutzes und der Kinder- und Jugendhilfe mehr Aufmerksamkeit erhält, und formuliert notwendige Maßnahmen, die alle Akteure, die mit dem Thema Kinderschutz befasst sind, ergreifen müssen. Den Beschlusstext können Sie als PDF herunterladen oder im Folgenden lesen:

Das SGB VIII ist die zentrale rechtliche Grundlage für gutes Aufwachsen für Kinder und Jugendliche und dem damit verbundenen nötigen Kinderschutz. Das Recht auf Förderung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit rahmt eine Idee von Kinderschutz, die nicht auf Eingriffe und das staatliche Wächteramt reduziert ist. Vielmehr geht es stets auch darum, dass Prävention zentral im Blick ist und dafür eine große Fülle von Angeboten und Unterstützungsmöglichkeiten vorliegt. Diese werden von den öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe in Kooperation und Absprache zu Verfügung gestellt, gestaltet und umgesetzt.

Der Kinderschutzbund, als Teil der freien Träger und als Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche, vertritt diesen breiten Kinderschutzbegriff und begrüßt, dass sich das SGB VIII und weitere rechtliche Grundlagen nicht zuletzt angesichts medial weitverbreiteter Kinderschutzfälle in den letzten knapp 20 Jahren deutlich verbessert haben. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe 2005, dem Bundeskinderschutzgesetz 2012 und dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz 2021 fand eine immer weitere Konkretisierung des Kinderschutzes statt, mit der Betonung, dass kein Bereich in der Kinder- und Jugendhilfe und keine Fachkraft allein einen qualitativ guten Kinderschutz gewährleisten können. Vielmehr wurde eine Verantwortungsgemeinschaft für den Kinderschutz fokussiert, wobei dem öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe dabei das staatliche Wächteramt zufällt.

Trotz dieser positiven Weiterentwicklungen beobachtet der Kinderschutzbund mit großer Sorge die derzeitige Situation in immer mehr Jugendamtsbezirken: Im deutlichen Kontrast zu dem skizzierten Ausbau und der Verbesserung des Kinderschutzes auf (rechtlicher) Seite zeigen sich an vielen Stellen ganz erhebliche Engpässe, denn es fehlt in vielen Bereichen vor Ort an Ressourcen, um die notwendige Basis für ein gutes Aufwachsen sicherzustellen. Jugendämter sind angesichts des Fachkräftemangels, hoher Fluktuation, Überlastungen, Krankheitsstand, schlechter Ausstattung und durch hohe Fallzahlbelastungen vielfach in ihren Aufgaben überfordert. Die Situation wird dadurch besonders verschärft, dass in der Praxis noch unerfahrene Absolvent*innen im besonders anspruchsvollen Feld des ASD eingesetzt werden und eine dezidierte Vermittlung des Themas Kinderschutz in der Ausbildung nicht durchgehend stattgefunden hat. Auch die schiere Anzahl der Aufgaben, die sich in den letzten Jahren erhöht und verdichtet haben, scheint an vielen Stellen nicht mehr zu bewältigen zu sein. In Einzelfällen sind Jugendämter selbst in Krisensituationen nicht erreichbar oder handlungsfähig. Der Kinderschutzbund hat die Sorge, dass sogar schwere Fälle der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche unbearbeitet bleiben. Er nimmt wahr, dass die mangelnden personellen Ressourcen gleichzeitig zu einer Vernachlässigung der wichtigen präventiven Maßnahmen führen. Für eine passende Hilfeplanung, Beratung und die Einbeziehung von Eltern und Kindern bleibt sehr häufig gar keine Zeit. Ohne frühe Unterstützung, die schwerere Fälle abmildert oder verhindert, setzt ein Teufelskreis ein, der dringend unterbrochen werden muss.

Auch die freien Träger, die Hand in Hand mit den Jugendämtern arbeiten, können aufgrund häufig nicht auskömmlicher Förderung, schlechter Rahmenbedingungen und des Fachkräfte-mangels ihre Angebote quantitativ nicht halten, ausbauen oder qualitativ auf dem notwendigen Niveau halten. Auch dies führt zu weniger Angebot in Prävention und Intervention z.B. im Be-reich der Hilfen zu Erziehung und z.B. zu weniger Plätzen in der Inobhutnahme, die wiederum die Jugendämter schwer belasten. In einzelnen Fällen werden sogar zentrale Aufgaben des öffentlichen Trägers an freie Träger delegiert und diese in einer unklaren Verantwortungssituation allein gelassen. Freie Träger versuchen an vielen Stellen Lücken durch eigene privat- und spendenfinanzierte Angebote zu ersetzen; dies kann kein erwünschter Dauerzustand sein. Die zusätzlichen Aufgaben, die eine hohe Zahl von unbegleiteten Minderjährigen mit sich bringen, kann die Kinder- und Jugendhilfe ebenfalls nur mit großer Mühe und nicht im notwendigen Maße gewährleisten. Statt allen Kindern ein angemessenes Angebot zu unterbreiten, sinkt für alle das Schutzlevel dramatisch.

Geltende und unstrittige Fachstandards werden von öffentlichen und freien Trägern häufig auf-grund der beschriebenen Situation nicht eingehalten – gleichzeitig findet immer wieder eine Debatte über die Aussetzung oder das Absenken von Standards statt- dies nicht auf Grundlage einer fachlichen Debatte, sondern ausschließlich aufgrund fehlender Ressourcen. Notwendige Anpassungen von überholten Standards werden aus fiskalischen Erwägungen ausgesetzt. Fachlich guter Kinderschutz, seine Gewährleistung und Verbesserung sind in diesem Diskurs kaum aufrechtzuerhalten.

Dieser schwierigen Lage muss entschieden begegnet und die Abwärtsspirale gestoppt werden. Der Kinderschutzbund fordert daher dringend, dass die prekäre Situation im Bereich des Kin-derschutzes und der Kinder- und Jugendhilfe mehr Aufmerksamkeit erhält. Wegschauen und die Augen vor dem Problem verschließen sind keine Lösung der Situation. Zuerst muss es uns jetzt darum gehen, die strukturellen und teils hausgemachten Risiken für Kinder und Jugendliche sowie die Mängel bei der Umsetzung der Rechtsansprüche sichtbar zu machen, sie zu be-nennen und auch genauer zu untersuchen.

Es braucht dazu dringend eines stärkeren Fokus und Problembewusstseins aller politischen und staatlichen Ebenen auf diese zentrale kommunale Aufgabe und den erkennbaren Willen sich des Problems anzunehmen. Unabhängig von Zuständigkeitslogiken bedarf es einer Gesamtan-strengung, das Mindestmaß an Kinderschutz, das durch das SGB VIII beschrieben ist und das damit verbundene Wächteramt des Staates, sicherzustellen. Der Kinderschutzbund fordert eine politische Prioritätensetzung ein, die deutlich macht, dass der Schutz und vor allem auch die präventive Arbeit ebenso wie die notwendige hoch qualitative Intervention und Unterstützung in jedem einzelnen Kinderschutzfall, kein Luxus sind.

Wir sagen bei Kinderschutzfragen: niemand muss allein mit einem Verdacht bleiben, das muss nun auch für diejenigen gelten, die trotz der strukturellen Engpässe versuchen, so gut wie möglich zu arbeiten. Auch sie dürfen nicht allein bleiben.

Dem Kinderschutzbund ist klar, dass es für diese Krise keine einfachen Antworten und kein simples Schalterumlegen gibt. Antworten werden für längere Zeiträume, komplex und ggf. regional unterschiedlich gegeben werden müssen. Um der Situation aber kurz- aber v.a. auch mittelfristig erfolgreich zu begegnen, ist es wichtig, die hohe Bedeutung des Themas Kinderschutz und die aktuellen Herausforderungen in der Breite zu erkennen. Alle damit befassten Akteure, freie Träger, öffentliche Träger, Verwaltung und Politik sind aufgerufen jetzt gemeinsam aktiv zu werden und zusammen das Ruder herumzureißen.

Dazu ist es wichtig, dass auch kurzfristig trotz angespannter Haushalte ausreichende und gesicherte finanzielle Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe auf allen Ebenen zu Verfügung stehen, um die bestehenden Angebote aufrechtzuerhalten und neue zu schaffen, die den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht werden. Tarifsteigerungen müssen auch bei freien Trägern automatisch zu einer adäquaten Anpassung der Förderung und der Leistungsentgelte führen. Zu dieser haushälterischen Prioritätensetzung gibt es keine Alternative, wenn Kinder und Jugendliche geschützt werden sollen.

Dem wachsenden Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe muss gemeinsam mit guten auskömmlichen und wertschätzenden Rahmenbedingungen begegnet werden, die attraktiv sind, sich für das Arbeitsfeld zu entscheiden und Personal langfristig binden. Ein sich gegenseitig kannibalisierender Wettbewerb zwischen den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe um wenige Fachkräfte trägt nicht zu Stärkung des Kinderschutzes bei. Nur wenn alle Bausteine eines guten Kinderschutzes mit guter Fachlichkeit ausgestattet sind, kann Kinderschutz funktionieren. Um geeignete Fachkräfte zu gewinnen, muss die Ausbildung der pädagogischen Berufe Kinderschutz in Curricula stärker verankern und ein guter Theorie-Praxis Transfer sichergestellt sein. Auch wenn häufig spektakuläre Fälle Antrieb für politische Aktivitäten im Kinderschutz sind, muss vor allem die Stärkung der präventiven Maßnahmen im Bereich des Kinderschutzes im Blick aller Akteure bleiben, um Probleme frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.

Das Absenken von Standards ist gefährlich. Vielmehr sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kinder- und Jugendhilfe qualitativ, insbesondere mit Blick auf den Kinderschutz und die Inklusion, vor weiteren Herausforderungen steht. Es gilt also vielmehr u.a. durch bessere Ko-operation der Akteure, den steigenden Anforderungen ausreichend gerecht zu werden und gemeinsam gute fachliche Lösungsstrategien zu entwickeln. Hier gilt es, regional alle Gremien und Netzwerke, wie z. B. den Jugendhilfeausschuss zu nutzen.

Kinderschutz darf nicht nur ein Thema allein in der Kinder- und Jugendhilfe sein, sondern muss ohnehin – und besonders in dieser herausfordernden Situation – auch eines für andere Systeme, insbesondere des Gesundheitswesens oder des Bildungssystems werden. Auch hier müssen Mängel in der Versorgung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen konstatiert werden; dies sollte bei Aktivitäten vor Ort und regional mit in den Blick genommen werden. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen muss unserer Gesellschaft mehr wert sein als eine Randnotiz im politischen Diskurs. Es ist unerlässlich, dass auf allen politischen Ebenen eine ehrliche Debatte geführt wird und Maßnahmen ergriffen werden, um die Kinder- und Jugendhilfe wieder handlungsfähig zu machen.

Beschlossen in Frankfurt am Main, Mai 2024